Péter Nádas gibt sein Archiv nach Berlin. In Ungarn wollte man es nicht

Das Schreiben beginnt mit der Wahrnehmung, sagt der große europäische Erzähler Péter Nádas. Am Sonntag feiert die Akademie der Künste seinen 80. Geburtstag nach.

Der Schriftsteller Péter Nádas
Der Schriftsteller Péter NádasAdK/Stekovics

Die Zeile „Zuerst das Bild, dann das Wort“ steht fast die ganze Zeit über dem Podium im großen Saal der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz, während des Klavierspiels von Bartók- und Kurtág-Stücken, während der Lesung, der Festreden und des Gesprächs mit dem Jubilar. Péter Nádas, der bedeutende europäische Erzähler aus Ungarn, ist am Freitag 80 Jahre alt geworden.

Der Sonntagvormittag ist einerseits eine Nachfeier, zu der sich das Berliner Publikum drängte (noch um kurz vor 11 Uhr warten Menschen an der Kasse darauf, ob nicht noch mehr Plätze von der Warteliste frei werden), auch Schriftstellerkollegen wie Herta Müller oder Ingo Schulze sind gekommen. Andererseits gilt die Matinee der Eröffnung des Archivs von Nádas. Er hat es der Akademie als Vorlass übergeben, und sie hat es nun so weit aufbereitet, dass es der Forschung zur Verfügung steht. In den Vitrinen vorm Saal kann man ein bisschen hineinlinsen.

Manuskript in der Mauer

Die Leinwand mit dem Bild-Wort-Zitat über einem Foto von Péter Nádas, der ja auch Fotograf ist, dem „Selbstbildnis mit einer Rolleiflex“ aus dem Jahr 1963, wird ein paar Minuten mit einem Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm bespielt. Nádas erzählt, warum er in Budapest keine Literatur mehr verfassen könne, sich in das Dorfleben in Gombosszeg eingefügt habe, aber dort ein Städter geblieben sei. In die Mauer eines Anbaus seines Wohnhauses sind Manuskriptseiten eingelassen, stapelweise Papier, das er eigentlich verbrennen wollte, nur sei damals sein Bruder dazwischengekommen und habe das Feuer gestoppt. Ein Raunen geht durch das Publikum.

Persönliche Gegenstände des Autors
Persönliche Gegenstände des AutorsAdK, Berlin, Péter-Nádas-Archiv

Was liegt denn dann in Berlin? Noch genug. Werner Heegewaldt, der Direktor des Archivs der Akademie, nennt das Material vom Umfang her „monumental“: 240 Archivkästen mit Entwürfen, Notizen und Sammlungen zu seinem Werk, vom frühesten Prosastück des elfjährigen Schülers bis zu den großen Romanen. Rund 14.000 Schriftstücke enthalte zudem seine Korrespondenz. Als ein „Archiv im Archiv, eine Art Zeitkapsel“ bezeichnet Heegewaldt die Fotos, Gegenstände und Dokumente, die Nádas für sein autobiografisches Buch „Aufleuchtende Details“ gesammelt hatte, von seinen Verwandten, die als Juden zum Teil versteckt lebten, seinen Eltern, die an den Kommunismus glaubten und an den Repressionen zerbrachen.

Ein Bibliotheksausweis aus Ost-Berlin

In Ungarn interessierte man sich nicht für das Archiv. In Berlin lagern die Dokumente nun neben denen der ebenfalls in Budapest geborenen Autoren und Denker Imre Kertész, György Konrád, George Tabori, Ivan Nagel und Péter Esterházy. Mit Berlin sind Nádas’ Leben und Werk ohnehin verwoben. Er war DAAD-Stipendiat in West-Berlin Anfang der 80er-Jahre. Ausgestellt in der Akademie ist sein Leseausweis der Staatsbibliothek Unter den Linden von 1972, in diese Zeit führt einer der Erzählstränge seines 1300-Seiten-Romans „Buch der Erinnerung“, aus dem Ulrich Matthes zwar lange, aber enorm fesselnd liest: Ein geschickt komponiertes Muster aus (Halb-)Stadterkundung zwischen Schöneweide, Mitte und Prenzlauer Berg bis zur Mauer mit ihrer damals frappierenden Selbstverständlichkeit und der unzugänglichen (später gesprengten) Versöhnungskirche. Bild reiht sich an Bild.

Das Geheimnis der Zeile „Zuerst das Bild, dann das Wort“ lüftet Lothar Müller für das Publikum in seiner Ansprache auf den „mehrsprachigen Kosmopoliten“, er deutet sie als „Bekenntnis zur Wahrnehmung“, ordnet sie einem der beiden neuesten Bücher des Autors zu: „Schreiben als Beruf“. Sie gehört zur dritten der darin aufgestellten Berufsregeln. „Zuerst das Bild, der Ton, der Geschmack, die Berührung und die Intuition, dann erst das Wort“, schreibt Nádas da. „Auf diese durch die Sinne beglaubigten Wörter hat sich die Welt der Begriffe aufgebaut, und diese Reihenfolge ist im Bewusstsein bis heute erhalten geblieben. Nicht nur in meinem Bewusstsein, sondern im Bewusstsein aller.“

Ein Ausschnitt aus der umfangreichen Korrespondenz des Autors
Ein Ausschnitt aus der umfangreichen Korrespondenz des AutorsAdK, Berlin, Péter-Nádas-Archiv

Für Péter Nádas hat die Wahrnehmung etwas Demokratisches. Im Gespräch mit der Literaturkritikerin Iris Radisch und dem Schriftsteller Navid Kermani erklärt er sie zu einer allgemein menschlichen Eigenschaft. Man könne unterschiedliche politische Hintergründe haben – und er nennt als Beispiel eine Chinesin mit einem völlig anderen Freiheitsbegriff als er, mit der er sich darüber unterhalten habe – man sehe doch zunächst dasselbe Bild. Radisch weist auf die erste der Nádas’schen Berufsregeln hin. Für die Zeit der Erzählung sei er, der Autor, „nicht ich“, er sei „nicht mein in meinem Ich enthaltenes anderes Ich, wie es ein jeder hat“. Nádas bringt das in Verbindung mit seiner Familiengeschichte, den Vorfahren, die Rabbiner waren. Sie hätten nur in seinen Text finden können, indem er sich als Person herausnahm. Und er lobt die Übersetzerin Christina Viragh, die dafür das deutsche Wort „Entselbstung“ erfunden hätte.

Schreiben als Alltag, als Beruf, als Zwang

Péter Nádas bekommt viel Lob und viel Applaus an diesem Sonntagvormittag. Doch er nutzt auch die Gelegenheit, um zu sagen, dass das Schreiben etwas Althergebrachtes sei, das habe er nur übernommen, bereits die alten Ägypter hätten geschrieben, wenn auch in Hieroglyphen, und die Mönche hätten über Jahrhunderte ihre Tage mit Schreiben verbracht, wenn er sich jeden Morgen um 8 Uhr hinsetze, das sei eine Art Zwangsneurose. Schon am Abend davor müsse er daran denken, dass am nächsten Tag wieder das Manuskript warte, weshalb er nicht zu viel trinken dürfe. „Ein bisschen geht“, sagt er. Zehn Jahre habe er seine Freunde und seine Frau damit gequält, dass er aufhören wolle, denn es lohne sich nicht. Aber er bleibe nun doch dabei. „Drei, vier Regime habe ich erlebt, erduldet, ertragen, überlebt und ich habe immer geschrieben.“

Zum Geburtstag ist auch noch ein Roman bei Rowohlt erschienen, „Schauergeschichten“ heißt er, mit knapp 600 Seiten für Nádas-Verhältnisse geradezu dünn. Die ersten Skizzen dazu habe er schon in den 70er-Jahren geschrieben. Dazu habe er bei der Akademie der Künste in Berlin Kopien aus seinem Archiv anfragen müssen, witzelt er. Und dann liest er noch ein Stück, sehr klar und sehr pointiert und doch in den Gedanken mäandernd. Das märchenhaft-archaische Dorfleben im sozialistischen Ungarn erscheint so schaurig und lustig zugleich, dass der Vormittag wieder mit einer langen Schlange endet: Am Bücherstand reihen sich die Lesehungrigen ein.